Ein Stück japanischer Tradition mitten in Fluntern

Christine Junod-Merz strebte ihr Leben lang nach etwas Besonderem. Im Spannungsfeld zwischen der japanischen und der Schweizer Kultur hat sie ihre persönliche Lebensphilosophie gefunden. Bei sich zu Hause gibt sie Gästen einen kleinen Einblick ins traditionelle Japan.

Von Monika Probst (2013)

Es herrscht absolute Stille in dem schlichten Teezimmer. Die Gäste knien auf Bambusmatten auf dem hellen Holzboden. Mitten im Raum ist eine Feuerstelle in den Fussboden eingelassen. Darauf steht eine gusseiserne Kanne mit heissem Wasser. Christine Junod-Merz hat ihre Teeutensilien – einen Besen, einen Bambuslöffel und eine Teeschale - vor sich auf ein Holzgestell gelegt. Andächtig giesst sie das auf die richtige Temperatur erhitzte Wasser zum Tee in der Schale.

Jeder Handgriff und jede Bewegung, die Christine Junod-Merz macht, hat eine tiefgründige Bedeutung. Sie bewegt sich auf vorgegebenen Wegen durch ihren Teeraum und bedient die Gäste nach einem strengen Protokoll. Nachdem sie den Matcha in vielen detaillierten Schritten zubereitet hat, folgt das gemeinsame Trinken aus der handgefertigten, kunstvollen und zugleich schlichten Teetasse.

Erst nachdem die Gäste sich verabschiedet haben, geht zum ersten Mal ein Lächeln über Christine Junod-Merz’ Gesicht. Sie setzt sich auf das Sofa in ihrem grossen Wohnzimmer. «Als Kind war ich introvertiert, doch im Tanz fand ich meine eigene Ausdrucksweise ohne Worte», meint sie.

Die weißen Stuckdecken reflektieren die Sonne und tauchen das große Wohnzimmer in ein gedämpftes Licht. Im Raum stehen nebst vielen japanischen Kunstwerken moderne, knallbunte Plastiken im 70er Jahre Stil, die ihre Schwiegermutter modelliert hat.

Zürich ist für Christine Junod-Merz ein Ankerpunkt: Hier wurde sie als jüngstes Kind einer gutbürgerlichen Familie geboren, hier ist sie aufgewachsen und hierhin ist sie nach manchem Auslandsaufenthalt immer gerne zurückgekehrt.

«Nein, keiner in meiner Familie interessierte sich besonders für Musik oder Kultur», antwortet Christine Junod-Merz zögerlich. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn das in sich gekehrte Mädchen von ihrer Mutter nicht ins Ballett geschickt worden wäre. «Die Art und Weise, wie man sich ohne Worte ausdrücken kann, fand ich faszinierend». Christine Junod-Merz übte bis zur Perfektionund wusste schon bald, dass sie ihre Leidenschaft auch zum Beruf machen wollte. Nach ihrer Ausbildung am Opernhaus Zürich lernte sie in Monaco bei Marika Besobrasova, einer der weltweit berühmtesten Ballettpädagoginnen.

Ihr dunkles, halblanges Haar ist streng nach hinten frisiert. Sie wirkt sehr grazil. Auch nach längerem Hinsehen ist man sich nicht ganz sicher, ob Christine Junod-Merz japanische Wurzeln hat. Ihre leicht mandelförmigen Augen blitzen verschmitzt, als sie erzählt, dass man sie schon als Kind für eine Japanerin hielt.

19-jährig erlebte Christine Junod-Merz in zweierlei Hinsicht einen Umbruch. Ihr Vater starb, und sie musste nach Zürich zu ihrer Mutter zurückkehren. Aber auch gedanklich brach sie mit dem Bisherigen. Plötzlich kam ihr das klassische Ballett zu fremdgesteuert vor. «Es gab nur Disziplin und Drill. Ich wollte selbständig denken und meine Persönlichkeit entfalten». Sie wendete sich vom klassischen Tanz ab und begann eine Ausbildung in modernem Tanz. Zeitgleich trat sie bei ihrem zukünftigen Mann eine Lehrstelle zur Grafikerin an. «Nur vom Tanzen konnte man zu Beginn der Neunziger Jahre in der freien Szene nicht leben», meint Christine Junod-Merz, die heute gemeinsam mit Christoph eine Grafikdesign-Firma betreibt.

Die ersten Jahre als moderne Tänzerin in der Schweiz waren hart. Christine Junod-Merz war Teil einer kleinen Truppe, die um alles kämpfen musste – Proberäume, Budgets und Anerkennung. Mit 24 ging sie nach New York. «Ich bin ein Mensch, der gerne in die Tiefe erfasst. Ich wollte weiter kommen», meint Christine Junod-Merz mit einem zaghaften Lächeln. Sie lehnt sich im weißen Stoffsofa zurück und kämmt sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Das Training in New York war deutlich härter als in der Schweiz und brachte sie bis ans Limit. Es gab so viel Neues zu entdecken, und die harte Konkurrenz trieb sie zu Höchstleistungen an.  Doch schon nach einem Jahr nahm ihr Aufenthalt ein jähes Ende. Viele Tänzer, die an AIDS erkrankt waren, starben durch eine Grippewelle.

Zurück in Zürich musste Christine Junod-Merz diesen Schock überwinden und erst einmal zu sich selbst finden. Doch schon nach kurzer Zeit begab sie sich wieder aufs Tanzparkett. Nach und nach inszenierte sie eigene Choreographien. Sie probierte viel Neues aus und schuf auch sehr gewagte Stücke. Die Reduktion auf das Wesentliche und der perfekte nonverbale Ausdruck waren ihr besonders wichtig.

«Nach Japan kam ich durch einen Zufall», erzählt Christine Junod-Merz. Durch eine Freundin erfuhr sie von einem Seminar, in welchem die japanische Kultur und Philosophie präsentiert wurde. So bewarb sich und konnte 1990 für sechs Wochen nach Japan in die Stadt Kameoka reisen. Hier tauchte sie in das alte Japan ein. Gekleidet in traditionelle Kleider lernte sie klassische Teezeremonie, Nô-Theater, Kalligrafie und Schwertkampf. Die Zeit war intensiv und für Christine Junod-Merz wegweisend. «Ich kann es nicht richtig erklären, aber ich habe mich gleich wie zu Hause gefühlt. Japaner haben eine ganz andere Art von Wertschätzung und Respekt».

Sie war fasziniert davon, wie in der japanischen Kultur alles auf das Wesentliche reduziert ist, und man ohne Worte so viel aussagen kann. Beflügelt von ihren Erlebnissen begann sie bei Soyu Yumi Mukai in Zürich, die klassische Teezeremonie zu lernen.

2008 trennten sich ihre Wege – Christine Junod-Merz wollte tiefer eintauchen und zusätzlich Zazen, eine japanische Meditationstechnik, lernen. Sie begann eine Ausbildung bei Nojiri Sensei. Ihre neue Meisterin ist streng und praktiziert die Teezeremonie kombiniert mit Zenmeditation.

Vor vier Jahren hat Christine Junod-Merz von der Urasenke-Stiftung, die Unterrichtserlaubnis erhalten. Nun darf sie, als Nichtjapanerin, die japanische Kultur vermitteln. In ihrem eigenen Teeraum gibt sie ihr Wissen an ihre Gäste weiter und verbindet damit die beiden Lebensweisen. «Ich möchte gerne das Bewusstsein für Dinge wecken. Wir sollten alle mehr Achtsamkeit haben, konzentrierter darauf achten, wie wir etwas tun und dadurch unsere Sinneseindrücke bewusster wahrnehmen».

Eine Teezeremonie dauert bis zu vier Stunden. Nebst der eigentlichen Zeremonie, zu der immer Gäste eingeladen werden, ist auch die Vorbereitung von grosser Bedeutung. So müssen von der Gastgeberin, abhängig von der jeweiligen Jahreszeit, der  Tee, die Tasse, die Utensilien aber auch Gegenstände, welche die Gäste betrachten können, ausgewählt werden.

Trotz ihrer Liebe zu Japan ist Christine Junod-Merz auch kritisch. Die japanische Kultur ist ihr zu hierarchisch strukturiert, die Japaner sind ihr zu unselbständig.

Sie meint nachdenklich, dass es vielleicht daran liegt, dass sie sensibel ist, oder dass sie als Nichtjapanerin anders denkt.  Anders als in der Schweiz üblich, ist es während ihrer Ausbildung zur Teemeisterin nicht angebracht, sich nach dem weiteren Fortgang zu erkundigen. Ihre Aufgabe ist es stetig weiter zu lernen und darauf zu warten, dass ihre Meisterin eines Tages von ihren Fähigkeiten überzeugt ist.

«Wir müssen eher lernen die Sachen so zu akzeptieren, wie sie sind und halt mal ab und zu leer schlucken», meint Christine Junod-Merz mit einem entspannten Lächeln.